Mittwoch, 9. Dezember 2015

Vorabend 2: Der Blurp

Markus Kirchhofer las am Vorabend eine seiner Geschichten aus seinem neuen Buch 'Der Stachel', das im Januar im Knapp-Verlag erscheint:
 
Die Ausgangspunkte der Geschichten sind Idyllen nostalgischer Vergangenheit oder heiterer Gegenwart: auf der Seegfrörni, am Skirennen, in der Badi, der Käserei oder der Projektwoche. Über diese friedlichen Orte bricht Unheil herein: ein Gletscherabbruch, ein Amoklauf, eine Entlassung, ein Verkehrs- oder Arbeitsunfall.
Markus Kirchhofer erzählt seine geschickt orchestrierten Geschichten in einer einfach gehaltenen, bildstarken, poetischen Sprache. Sie verrät den versierten Lyriker. (Auszug Buchvorschau)
Allerdings hat Kirchhofer die Geschichte betreffs der Lokalitäten auf Noseland angepasst.
Anbei die ganze Geschichte (mit Erlaubnis des Autors):

Der Blurp                                                                                

Der Blurp kam hinunter bis nach Noseland. Er kroch über die Grenze und bildete einen kaffeebraunen Torso aus Dreck, Lehm und Wasser. Aus dem Hals schwoll eine Ausstülpung. Als sie platzte, ergoss sich frisches Quellwasser auf die Wiese.

Zwei Tage zuvor, an einem Sonntag, war ich mit dem Hund unterwegs, oberhalb des Sandplattechopfs. Ich ging an den grossen Findlingen vorbei und wollte über das Bächlein. Aber der Hund wollte nicht hinüberspringen, ums Verrecken nicht. Er winselte und bellte wie am Spiess. Da dachte ich schon, dass der Blurp unter unseren Füssen war, nach all dem Regen in den letzten Tagen. Im Mondschein der folgenden Nacht wollten unsere Nachbarn gesehen haben, dass sich die Föhren bewegten, neben der Abbruchstelle von 1806. Das sagten sie uns aber erst, als der Blurp schon in Noseland unten war.

Am Montag regnete es weiter, andauernd. Wir blieben im Haus und in der Scheune. Nach der vielen Erntearbeit draussen gab es drinnen genug zu tun. In der Nacht von Montag auf Dienstag hörten die Nachbarn einen Knall, der ihr ganzes Haus erwadelte. Mein Mann und ich hörten nichts, wir schliefen wie die Murmeltiere.

Am Dienstag regnete es weiter. Gegen Mittag blickten wir hoch zur alten Abbruchstelle. Wir sahen, wie der Blurp gleich daneben eine neue Bruchstelle aufriss. Wir rannten zu einem sicheren Felsvorsprung. Der Schlipf kam näher. Zu unseren Füssen floss unser Bannwald vorbei, ganz langsam. Felsen und Baumstämme wurden in die zähflüssige Masse hineingeknetet, bäumten sich auf, rieben sich knackend und polternd aneinander. Der Blurp riss Steine, Kies und Dreck mit. Da und dort spuckte er Wasserfontänen heraus. Dann tauchte er wieder ab.

Ich eilte ins Haus zurück und telefonierte der Gemeindekanzlei. Die Feuerwehr sperrte die Zufahrtsstrasse zu unserem Haus. Auch ein Geologe kam und erklärte:  "Sie leben südlich einer Hauptüberschiebung in der Erdkruste. Weiter südlich beginnt der ultrahelvetische Sandstein." Der Berg, an dem unsere Familie seit Generationen lebt, sei "subalpine Molasse, bei der Alpenfaltung aufgeschoben." Links und rechts unseres Heimets hätten sich seit der letzten Eiszeit bereits Bergstürze ereignet, der letzte grössere 1806. "Es ist eine Frage der Zeit, bis Ihnen der Boden unter den Füssen wegbricht, erdgeschichtlich gesehen." Seit Menschengedenken leben wir hier am sonnigen Bord und zirpen wie die Feldgrillen. Vom Blurp unterspült, kann unsere Grasnarbe jederzeit abrutschen. "Mit dem Bergsturz von 1806 ist der gegenwärtige Erdrutsch nicht zu vergleichen, aber Sie sollten unbedingt für eine Weile weg, sicherheitshalber." Ich packte einen Rucksack mit dem Nötigsten: Familienbüchlein, Testament, Hochzeitsurkunde, AHV- und Versicherungsausweis. Dazu eine Zahnbürste, Zahnpasta, ein Frotteetuch, das Schuttbuch von 1806 und den Holzschuh mit den zwei Lederriemen.

Mein Grossvater hatte mir erzählt, dass das Schuttbuch ein Jahr nach dem Felssturz erschienen war. Den Erlös des Buchverkaufs erhielten die Überlebenden des Bergsturzes. Zwei davon waren Vorfahren von mir: Meine Urururururgrossmutter und ihr Säugling. Jede der 457 verschütteten Personen, die hier wohnten oder auf der Durchreise waren, ist im Schuttbuch erwähnt. Mit Namen, Alter, Familienstand und allem, hatte Grossvater erzählt.

Der Mann meiner Vorfahrin war während des Sommers als Senn auf dem Haberberg gewesen. Es war bereits September und das Wetter seit Wochen schlecht. So machte sich mein Urahn mit seinem Vieh auf den Rückweg von der Alp. Als er bei der Ruederche anlangte, riss der Blurp Nagelfluhbänke vom Schärhamme. Der Berg raste zu Tal, in die Ruederche und sogar den Gegenhang zum Haberberg empor. Der Bergsturz hatte meinen Vorfahr in den Tod gezerrt, mitsamt seiner Herde.

Seine Frau im Bergheimetli hatte in den Tagen zuvor gehört, wie Baumwurzeln hinter ihrem Haus gekracht hatten. Im prasselnden Regen stiess der Blurp Findlinge ins Tal, drückte Steine aus der Erde und spaltete Wiesen. Als meine Vorfahrin in der Küche Milchbrei für ihr Kind kochte, brüllte der Blurp drei Mal, tief aus dem Gestein. Die Frau holte ihr Kind aus der Wiege und floh mit ihm aus dem Haus. Kaum war sie draussen, riss der Blurp das Haus in die Tiefe. Der ganze Hang rutschte zu ihren Füssen weg. Als das Tosen vorbei war, eilte sie dem Bergsturz hinterher, um ihren Mann und seine Herde zu suchen. Auf dem Schuttkegel flossen bereits neue Bäche. Die Hänge des Habergergs waren bedeckt mit Heu aus den Schobern und Federn aus den Betten der Verschütteten. Tage später wurde am Ufer der Ruederche der Holzschuh mit den zwei Lederriemen gefunden. Er wurde meiner Urururururgrossmutter gebracht. Sie hatte ihn behalten, obwohl sie nicht mit Sicherheit hatte sagen können, dass er ihrem Mann gehört hatte.

Mein Mann ging zum Bauern hinter dem Bannwald und fragte: "Können wir dir unser Vieh bringen, vorübergehend?". Es ging nicht, also blieben wir mit dem Vieh auf dem Hof. Der Gemeindeschreiber forderte uns am Telefon nochmals auf, unser Haus zu verlassen. Wir blieben. Zum Glück hörte der Regen im Laufe des Dienstags auf. Der Blurp lag erschöpft auf Noseland. Vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzend, ging ich mit dem Hund bergauf. Der Blurp hatte einen Teil unseres Waldes mitgerissen, ein Wasserreservoir verschoben und einen neuen See gebildet. Die Holzbrücke, die mein Mann zwei Jahre zuvor gebaut hatte, war um 90 Grad gedreht, das Bächlein darunter versiegt.

Am Mittwoch kamen die ersten Neugierigen. Zwei kamen barfuss und verdreckt bis zum Hintern in unsere Bergwirtschaft. Sie waren durch den Schlamm des zum Stillstand gekommenen Schlipfs gewatet und hatten ihre Stiefel nicht mehr aus dem Dreck ziehen können. Das Gebiet des Murgangs sah aus wie eine Mondlandschaft. Der Regen, der Schnee und der Bach trugen sie langsam ab. Im nächsten Jahr bildeten sich spitze Hügel, die aussahen wie Termitenbauten, mit einem Stein zuoberst. Die Feuerwehr, das Militär und der Zivilschutz räumten auf und bauten neue Wanderwege.

Der Rucksack mit den Schriften, dem Schuttbuch, dem Holzschuh und dem Necessaire steht im Schlafzimmer. Seit der Blurp bis nach Noseland kam, bleibt der Rucksack gepackt. Hin und wieder wechsle ich die Zahnbürste und das Frotteetuch aus.

 

 

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